Konzept "Liebe" aus konstruktivistischer Sicht von Dr. Leon Tsvasman
Konzept "Liebe" aus mediendidaktischer Sicht
mediendidaktik, instructional design, leon tsvasman, philosophy of love
1. 222 Liebe
chologischer und pädagogischer Erfassung. [zuerst [L. als Prinzip] Konzeptuell fungiert
1922], in: Geppert, K., Preuß E. [Hrsg.]: Selbständiges L. in religiösen/philosophischen Entwür-
Lernen, S. 35ff., Bad Heilbrunn/Obb. (1980) SEEL, N. fen von ethischer Geltung oft als Prinzip
M. (2000): Psychologie des Lernens, München, Basel. des intersubjektiven Handelns („Nächsten-
SEIDEL, R.J. et al. (2004): From Principles of Learning liebe“ in der judeo-christlichen Tradition
to Strategies for Instruction, Berlin, Heidelberg, New oder das Konzept der „göttlichen Liebe“
York. SPITZER, M. (2002): Lernen, Berlin. SQUIRE, L. in bedeutenden religionsphilosophischen
R., KANDEL, E. R. (1999): Gedächtnis. Die Natur des Systemen): In richtungweisenden Ent-
Erinnerns, Heidelberg, Berlin. VESTER, F. (1980): Den- würfen und revolutionären Versuchen galt
ken, Lernen, Vergessen, 5. Aufl., München. VOGT, H.H und gilt L. oft als Prinzip der optimierten/
(1966): Der Nürnberger Trichter. Lernmaschinen für harmonisierten Ges. („Make Love, Not
Ihr Kind?, Stuttgart. WIESNER, G. (2005): Die lernende War“ der sog. 68-er Bewegung), als De-
Gesellschaft: Lernkulturen und Kompetenzentwick- terminante der sozialen Selbstregulation
lung in der Wissensgesellschaft, München. ZIELINSKI, oder als transzendental-metaphysischer
W. (1995): Lernschwierigkeiten, Stuttgart. Antrieb (L. als Vollendung des Guten; L.
in der kabbalistischen Kosmologie).
Einerseits wird L. (als gesellschaftl.
Prinzip) mit der Emanzipation von der
[sozial, wirtschaftlich, institutionell er-
Liebe [love] zwungenen] Subjektkonstanz (Status,
Leistung) in Verbindung gebracht, womit
vor allem die Selbstentfaltung des Objekts
L. ereignet sich aus der kognitiv-intersub- der L. beachtet wird; anderseits wird die
jektiven Haltung der verstärkten ↑ Auf- intersubjektive Stabilität (gegenseitige
merksamkeit (Anerkennung, Achtung) Achtung, Vertrauen) durch die spezifische
und wird als [besonders] intensive Zunei- „Leistungsbereitschaft“ des Subjekts der L.
gung oder Verbundenheit erlebt. auf eine Gemeinschaft/gesamte Mensch-
Der Antrieb der L. ist biol. Natur, ihre heit projiziert und als transsubjektive Ver-
anthropologische Eigenart besteht in der körperung eines [humanistischen] Men-
kommunikativen Übertragbarkeit auf die schenbildes verwirklicht/angestrebt.
Entitäten − Konstrukte und Kategorien − [L. als Diskurs] Aufgrund der hohen
der transsubjektiven Wirklichkeit (L. zur transkult. Relevanz, die mit dem kogniti-
Heimat, Menschheit, aber auch platonische onsbiol. Determinismus erklärbar ist, wer-
oder etwa romantische L.). den physiol., psychol., ästhet., ethische,
Aus system- und kommunikationsthe- pol., rechtl. und religiöse Erlebens- und
oret. Sicht (vgl. Luhmann 1996, 1997) Erlebniskontexte der L. diskurs-, disziplin-,
motiviert L., als symbolisch generali- genre- und kulturübergreifend in diver-
siertes Kommunikationsmedium in der sen Medientexten thematisiert, indem sie
zwischenmenschlichen Komm., die An- publizistisch oder belletristisch aufberei-
nahme von Selektionen (Kommunika- tet, wissenschaftlich erforscht oder künst-
tionsvorschlägen), um etwa der Unwahr- lerisch umgesetzt werden. Die wichtigsten
scheinlichkeit der Komm. (Luhmann Schwerpunkte bilden spätestens seit dem
1981) entgegenzuwirken. 19. Jh. und verstärkt seit Mitte des 20. Jh.
Trotz der offensichtlichen semanti- (vor allem nach der 68-er Bewegung) pro-
schen Mehrdeutigkeit, des hohen euphe- blematisierte Themen um L. und Ehe/Fa-
mistischen Potentials und der inflationären milie, homosexuelle L., L. und Alter, sog.
Verwendung in zahlreichen Diskursen freie L., bei denen emanzipatorische Ten-
lässt sich die multidisziplinäre Relevanz des denzen eine Rolle spielen. Andererseits
L.sbegriffs aus der Perspektive soziokultu- befasst sich interdisziplinäre Forschung
reller Medienkontexte begreifen. neben den Grundlagenthemen (L. und
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Komm.) mit alltagsrelevanten Fragestel- von L. gepflegt (L. als Achtung bei Kant
lungen (Partnerschaftsprobleme etc.). oder L. als Peitsche bei Knut Hamsun).
[L. in der ↑ Popkultur] In der sog. Unterschiedliche Konzepte von L. werden
Popkultur werden seit ihrer Entstehung als geisteswiss. Gegenstand vor allem in
zahlreiche Bedeutungen und Konnotati- kunst- und literaturhistorischen Untersu-
onen des Begriffs meistens als klischee- chungen erforscht.
hafte Wendungen tradiert. Sie scheinen [↑ Medialität der L.: Erlebens- und
ausgewählte Verhaltensmuster (z.B. im Darstellungsformen] Medientradirte Er-
Umgang mit „Verliebtheit“) als Trend- lebens- und Darstellungsformen der Sexu-
oder Lifestylefaktoren zu stilisieren. Die alität (geschlechtliche Interaktion), Sinn-
postmoderne Erlebniskultur (s. ↑ Erleb- lichkeit (triebbezogene intrasubjektive
nis) macht L. zum bedeutenden Erleb- Ereignisse), Erotik (sinnlich motivierte
nisfaktor, so dass ihre Spielformen (Flirt, und mental fundierte L.) und Pornogra-
Lust) zunehmend als Beitrag zur Versinn- fie (explizite Darstellung von sexuellen
lichung des Alltags und als Motivations- Handlungen) werden in einer zweifelhaf-
faktor (etwa für die Alltagsbewältigung) ten/umstrittenen Verbindung mit L. oder
empfunden werden. Zahlreiche Kritiker in anderen konzeptuellen Kontexten inter-
dieser Tendenz sehen darin die Gefähr- disziplinär und – im Zusammenhang mit
dung traditioneller Ehe/Familienwerte ihrer Medienwirkung/Rezeption – pro-
etc. Ein ↑ Genre (spezifische Produkt- blematisiert sowie institutionell reguliert.
gruppe), das im ↑ Fernsehen und Film Das vom jeweiligen Zeitgeist, dem sozia-
vor allem die tragische oder gescheiterte len System und dem Stand wissenschaft-
L. als Schwerpunkt des Erzählkonzepts licher Erkenntnisse [etwa über Biologie
„verarbeitet“, heißt Melodram (vgl. Hi- der Sexualität] abhängige Verständnis der
ckethier 2002). Sittlichkeit und Moral (als „Gebrauchse-
[Historische Konzepte von L.] Als thik“) wird (a) durch die publizistische
historisch beliebter Gegenstand der lite- Aufbereitung in Medien zielgruppen-, ggf.
rarischen und künstlerischen Darbietung alterspezifisch thematisiert (sexuelle Auf-
wurde der Begriff der L. mannigfaltig klärung der Jugendlichen), (b) [medien-
tradiert und ist deshalb nur schwer in- ]rechtlich umgesetzt (Jugendschutz) oder
haltlich einzugrenzen. Das Erosprinzip (c) bei der Konzeption und Umsetzung
oder etwa das L.skonzept von Platon, der Maßnahmen zur Verkaufsförderung
allg. bekannt als platonische L., prägten (Werbung, Branding) instrumentalisiert.
das L.sverständnis der griechischen Anti- Seit einigen Jahrzehnten wurde Erotik (Il-
ke. Das L.skonzept hat sich im Laufe der lustrierte wie „Playboy“ oder Beate Uhse
Geschichte immer wieder gewandelt: Das Shops) und in letzten Jahren ästhetisier-
„Hohe Lied“ (von hebr. Schir-ha-Schirim: te Pornografie zunehmend kulturfähiger.
„Lied der Lieder“) wurde zum Symbol Ihre Spielarten nehmen, vor allem über
der alttestamentarischen L.spoetik, die künstlerische und belletristische Darbie-
Trennung der sinnlichen und geistigen L. tungen, Einzug in die ↑ Öffentlichkeit.
prägte das L.sverständnis des Mittelalters, Exhibitionismus, Voyeurismus, Sadoma-
die Suche nach zwischenmenschlicher L. sochismus oder Fetischismus (früher se-
bewegte die Renaissance, altruistische L. xuellen Randorientierungen überlassen)
wurde in der Romantik „romantisiert“, werden zunehmend als Bestandteil der
(psychoanalytisch) aufgeklärte L. prägt(e) Mainstream-Kultur thematisiert, zumal
die Moderne (s. dazu auch ↑ Postmoder- viele von ihnen eine längere belletristische
ne). Tradition aufweisen. Die informationsge-
[Kritik an der L.] In literarisch-philo- sellschaftlichen Aspekte von L. finden in
sophischen Texten werden humanistische neuzeitlichen Konzepten wie virtuelle L.,
oder etwa voluntaristische Auffassungen Cyberl. oder Cybersex ihren Ausdruck.
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3. 224 Liebe/Macht der Medien
[↑ Medialität der L.: Instrumen- Literatur: KANT, I. (1968): Grundlegung zur Metaphy-
talisierung in der Werbung] Medien- sik der Sitten, in: Ders.: Werke: Akademie Textaus-
spezifische Thematisierung der einzelnen gabe, Bd. 4, S. 385-464, Berlin. KANT, I. (1968): Kritik
Aspekte des Erlebens sowie das Erleb- der praktischen Vernunft, in: Ders.: Werke: Akademie
nispotential von L. (z.B. in der erlebnis- Textausgabe, Bd. 5, S. 1-162, Berlin. KANT, I. (1977):
orientierten Werbung) sind für die Medi- Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Ders.:
enwirkungsforschung von Relevanz. Auch Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphiloso-
werden Rezeption der Erotik in Werbung phie, Politik und Pädagogik 2, Werkausgabe Bd. XII,
sowie medienrechtliche bzw. -politische Frankfurt a. M. MATURANA, H., VERDEN-ZÖLLER, G.
und -ethische Probleme der Darstellung (1993): Liebe und Spiel. Die vergessenen Grundlagen
sexueller Handlungen untersucht. des Menschseins. Heidelberg. Maturana, H. (1987):
Die Instrumentalisierung der eroti- Der Baum der Erkenntnis, Bern, München. Foucault,
schen Stimuli in Werbemaßnahmen ist M. (1983): Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum
aus Sicht der gegenwärtigen Medienwir- Wissen, Frankfurt a. M. PIAS, C., VOGL, J., ENGELL,
kungsforschung umstritten (Schmidt L. ET AL. [Hrsg.], (2000): Kursbuch Medienkultur. Die
2004); bei Kritikern gilt sie als ineffizi- maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard,
ent, da sie zwar ↑ Aufmerksamkeit [meis- Stuttgart. SCHMIDT, S. J. [Hrsg.], (2004) Handbuch
tens männlicher] Rezipienten (klassi- Werbung, Münster. LUHMANN, N. (1984/1996): So-
sche Blickfangwerbung) bzw. Beteiligter ziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie.
(Events) anregt, was von empirischen Frankfurt a. Main. LUHMANN, N. (1997): Die Gesell-
Studien bereits belegt wurde. Sie lenkt schaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. BAECKER, D.
aber von dem beworbenen Produkt oder (2005): Kommunikation als Selektion. Dirk Baecker
Marke (in Brandingmaßnahmen) ab, was über Donald M. MacKays „Information, Mechanism
sich z.B. in Erinnerungsergebnissen an and Meaning“ (1969), in: Baecker, D. (Hrsg.), Schlüs-
die produktbezog. Inhalte der Werbebot- selwerke der Systemtheorie, S. 119-128, Wiesbaden.
schaften äußert; auf diese Weise mindert
die erotisch provozierende Werbung i.d.R.
die Nachhaltigkeit der von dem Auftrag-
geber angestrebten Wirkung (etwa Erin-
nerung an das Produkt bzw. die Marke). Macht der Medien
Die bereits vielfältig beobachtbare glo- [power of the (mass) media]
balgesellschaftliche Tendenz zur Virtu-
alisierung und Medialisierung, Instru-
mentalisierung und Kommerzialisierung, Die These von der M.d.M. wurde bereits
Intensivierung/Verwirklichung und Indi- in der Antike in Gestalt einer erklärten
vidualisierung bzw. Marginalisierung des „Urfurcht vor den Wirkungen der Kom-
kognitiv-intersubjektiven Erlebens macht munikation“ diskutiert, zieht sich dann
L. mit ihren mannigfaltigen Formen, wie ein roter Faden durch die Geschichte
Spielarten und Kontexten neben einem und gewinnt im 20. Jh. bei der Einfüh-
mächtigen Kommunikationsfaktor zu ei- rung des ↑ Fernsehens neue Brisanz. Par-
nem bedeutenden Mediendiskurs. allel dazu gibt es weitere Entwicklungen,
die, aus ganz anderer Perspektive, die Er-
Leon Tsvasman kenntnis nahe legen, dass die M.d.M. zu-
nimmt.
>> Intersubjektivität; Aufmerksamkeit; Medi- [Furcht vor der Gewalt der Medien]
alität; Fernsehen; Öffentlichkeit; Öffentliche Schon Platon fordert, jungen Menschen
Meinung; Cyberspace; Erlebnis; Popkultur; die Gewalttaten, die Homer beschreibt, zu
Informationsgesellschaft; Postmoderne; Spiel; verheimlichen, um i.S. der Bewahrpäda-
Orientierung; Musik; Kunst; Kybernetik; Me- gogik die Jugend zu schützen (Platon: Der
dienpsychologie; Kommunikationstheorie. Staat, 10. Buch, Str. 603 und 606).
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