2. 09/2017 prmagazin 1
Digitalberater reden an der Wirtschaft vorbei, kritisiert Gunnar Sohn.
Wenn Snapchat-Heiopeis auf
Unternehmer treffen
NETZGEDANKEN
Man sollte sich von den digital-transformatorischen
Keynote-Dampfplauderern nicht ins Bockshorn jagen
lassen. Wer auf Frauen uriniert wieder Gründer und
Chef von Snapchat Evan Spiegel, einen diktatorischen
Kommunikationsstil pflegt und ein vulgärkapitalis
tischesEgoManagement an den Tag legt wieUber
Gründer Travis Kalanick, taugt nicht alsVorbild für die
Wirtschaftswelt. ExDaxVorstand Thomas Sattelberger
kann dieseEvangelisten nicht mehr hören, dieauf den
Bühnen stehen und oberflächenkosmetischeGebilde
alsGeschäftsmodelleder Zukunft propagieren, während
sieim eigenen Unternehmen führungsmäßigmarodesind.
Gleichesgilt für vielePhrasendrescher, diesich über
KünstlicheIntelligenz (KI) auslassen. Dazu
zählt für Wolfgang Wahlster vom Deutschen
Forschungszentrum für KünstlicheIntelligenz
(DFKI) der Dauerredner Ray Kurzw eil, der
substanzfreieThesen vorlege. DieFolge, so
Wahlster: „DasgrößteKIZentrum findet
man nicht mehr in den USA,sondern mit
dem DFKI in Deutschland. Dassliegt daran,
dasswir versuchen, alsIngenieureauf dem Boden
der Tatsachen zu bleiben.“
Leider halten sich vieleDigitalerklärer nicht an diese
Empfehlung. Für MittelstandsexperteMarco Petracca
wird dieKommunikation über diedigitaleTransformation
in Deutschland immer deprimierender. „DieRhetorik auf
den Bühnen und in den Wirtschaftsmedien ist kriegerisch.
Etwa in der WiWo mit der Headline‚DieEinschläge
rücken näher‘. Dastut der Sachenicht gut und führt in
dieIrre. So desolat ist der Statusquo überhaupt nicht.“
Die Rückständigkeit sieht Petracca eher in der Berater-
und Agenturbranche. Wer ständig nur über Snapchat
trällert,kommuniziert an der Lebensrealität derWirtschaft
vorbei. Ein Maschinenhersteller, der Sensoren einführt,
in den Lieferketten auf KI setzt und bei der Produktion
auf komplexeSoftwareangewiesen ist, könnemit dem
Beraterquatsch auf SelfieNiveau nichtsanfangen. „Wenn
da ein Heiopei um dieEckekommt, der noch niein der
Fertigungshallegestanden hat und irgendetwasvon
verpassten Chancen in der Digitalisierung absondert, ist
dasnicht sehr glaubwürdig“, kritisiert Petracca.
Esgebezwar speziell im industriellen Mittelstand eine
stoischeAblehnung, sich neuen Themen zu öffnen, aber
diekönnten Beispieleausder PrivatkundenEckenicht
aufbrechen. „Esgibt Sanitärausstatter, dieihren Kunden
3DBrillen geben, um neueBadezimmer virtuell betrach
ten zu können. Soein Mann will nicht dieneuesteFace
bookVRTechnik um dieOhren gekloppt bekommen. Der
denkt in kleineren Dimensionen.“In der Netzszenewerde
immer nur dasgroßeRad gedreht – von Story
tellingbis4KVideos.Kleineund mittelständische
Betriebekönnten damit nichtsanfangen.
„Viele Berater interessieren sich nicht für die
Probleme und Herausforderungen, dieFirmen
haben“, sagt LeadershipStrategeRalf Schw artz .
„Dieinteressieren sich dafür, einen tollen Vortrag
zu halten und selbst gefeiert zu werden. Das
schafft man, wenn man über diefünf großen digitalen
Unternehmen spricht, dieesweltweit geschafft haben.
Essind aber diefalschen Beispiele, über diegesprochen
wird. Man könnewunderschöneKonferenzen abhalten
über diedigitaleWelt und über Unternehmen, diedigital
funktionieren – also Apple,Amazon, Google,Facebook
und Microsoft. „Dahinter gibt esaber zigtausende
Firmen, dieesnicht geschafft haben. Auch im Silicon
Valley. Über dieredet keiner“,moniert Schwartz.
Man könnedieBig Fivenicht imitieren, von ihnen nicht
mal etwaslernen. „Man kann eigentlich nur sagen: Ich
vergessealles, wasich über mein Unternehmen und
meinen Markt weiß,nehmeein weißesBlatt Papier und
fangevon vorn an“, empfiehlt Schwartz. Auch wenn es
nur eineÜbung ist, dieUnternehmer am Wochenende
machen – ohneSnapchat.
6. „Die klassische Unternehmenskommunikation lief über den Gatekeeper
Journalist, dann über den Gatekeeper Blogger oder Influencer und jetzt
erleben wir den dritten Schritt. Unternehmen werden selbst zu Medien“,
erläutert Karsten Lohmeyer, Chief Content Officer der Agentur „The
Digitale“, die 2014 von der Deutschen Telekom als Content-Marketing-
Startup aus der Taufe gehoben wurde.
7. „Ein großer Teil des täglich
produzierten Medienbreis
besteht aus belanglosem
Entertainment,
zusammengestrichenen
Pressemitteilungen, schlecht
recherchiertem Nutzwert und
leider viel zu oft aus armselig
versteckter Schleichwerbung.“
Guter Corporate Content killt schlechten
Journalismus.
8. Die von uns in die Wege geleiteten
Veränderungen erreichen kein Plateau,
auf dem dann wieder eine Zeit lang
Ruhe einkehrt. Das vermitteln
Scharlatane: die digitale Transformation
wurde nach Maßgabe des Beraters
realisiert, jetzt können wir wieder zur
Tagesordnung übergehen. „Allem ist
eingeschrieben, dass nichts so bleibt,
wie es jetzt schon angekündigt wird,
sondern eben nur eine Zwischenstufe
auf dem Weg zum Nächsten ist“, sagt
der Kulturwissenschaftler Stephan
Porombka.
An die Stelle von Gewissheiten rückt das
Experiment.
Achtung, digital-transformatorische Scharlatane