Medienbildung als Schulentwicklung oder: Wie man ein trojanisches Pferd zähmt
Jörissen, Benjamin (2011, Preprint). Bildung, Visualität, Subjektivierung. Sichtbarkeiten und Selbstverhältnisse in medialen Strukturen
1. Bildung, Visualität, Subjektivierung –
Sichtbarkeiten und Selbstverhältnisse in medialen Strukturen
Benjamin Jörissen
http://joerissen.name – benjamin@joerissen.name
erschienen als:
Jörissen, B. (2011). Bildung, Visualität, Subjektivierung. Sichtbarkeiten und Selbstverhältnisse in medialen
Strukturen. In: Meyer, T.; Mayrberger, J.; Münte‐Goussar, St.; Schwalbe, Ch. (Hrsg.): Kontrolle und Selbstkontrolle. Zur
Ambivalenz von E‐Portfolios in Bildungsprozessen. Wiesbaden: VS‐Verlag, S. 57‐73.
http://www.springerlink.com/content/p6nkr6l583v51162/
Preprint: nicht zitierfähig!
Es ist ein ungewöhnliches Phänomen – im durchaus blutigen Schnittfeld von Körper und
Körpernorm auf der einen Achse, von medialer Öffentlichkeit und intimster Selbstbeziehung auf
der anderen – dem der Historiker, Kulturwissenschaftler und Medienforscher Mark Poster sich im
Rahmen eines Aufsatzes widmet, den ich als Movens meiner nachfolgenden Überlegungen kurz
referiere, und an den ich mit einer bildungstheoretischen Perspektive anschließen möchte (Poster
2008). Poster widmet sich einem TV‐Genre, das in den 2000er Jahren aufgekommen ist, schnell an
Popularität gewonnen hat und in diversen Formaten realisiert wurde: die Rede ist von Reality‐TV‐
Shows über kosmetische Chirurgie. „Extreme Makeovers“, „Sun, Sea and Silicone“, „10 Years
Younger“ und – von Poster insbesondere berücksichtigt – „The Swan“ (USA, FOX, 2004) und „I want
a Famous Face“ (USA, MTV, 2004) sind die Titel derartiger Serien, die auch in Deutschland
ausgestrahlt und adaptiert wurden.
Man kann, so Poster, „sich diesen Programmen leicht zuwenden als elenden Beispielen für Patriarchat,
kapitalistische Ideologie, neoliberale Marktkultur, quälend schlechten Geschmack, bedauernswerte
Massenkultur, beschämende Ausbeutung, Publikumsmanipulation, heterosexuelle Normativität,
1
4. mithin einen dezidiert artikulativen und auch sehr politischen Charakter auf.
Wie kann man nun, wenn man auf der Folie von Orlans Performances die genannten Surgery‐
Shows reflektiert, diese in einer anderen Weise verstehen? Das Beispiel Orlans verweise, so Posters
These, darauf, dass sich in den Shows eine tiefergehende kulturelle Transformationen exemplarisch
manifestieren könnte. Um diesen Zusammenhang theoretisch angemessen in den Blick zurücken,
seien in einem Exkurs zwei hierzu wichtige Konzepte aus dem Werk Michel Foucaults erläutert, die
einerseits mit der visuellen Konstellation, andererseits mit dem bereits angeklungenen Thema des
Selbstbezugs in Verbindung stehen.
Exkurs: Vom Disziplinarsubjekt zu Praktiken der Selbstsorge
Dass „Subjektivität“ sich nicht umstandslos mit „Freiheit“ und „Selbstmächtigkeit“ konnotieren
lasse, ist ein Topos, der bereits seit über zweihundert Jahren den Diskurs um das moderne
Individuum begleitet wie ein – nach wie vor überwiegend ungeliebter und wenig verstandener –
Schatten (Taylor 1996; Gödde 2000; Lüdgehaus 2005). Als Vollzug der reflexiven Beziehung auf sich
bleibt das (egologisch, also vom singulären Ich her gedachte) Subjekt eine paradoxale Figur, (wie an
den modernen Selbstbewusstseinstheorien ablesbar; vgl. Frank 1991). Das Subjekt ist nur
scheinbar das „Zugrundeliegende“ (wie es in seiner Etymologie als hypokeimenon bzw. subiectum
in einer bestimmten Lesart anklingt), denn es kann sich in seiner Existenz nicht aus sich selbst
heraus, also aus der reflexiven Selbstbeziehung heraus begründen, wie beispielsweise Heidegger in
Sein und Zeit mit großer Wirkung auf die nachfolgenden Subjektdiskurse aufgezeigt hat.2 Im
Anschluss an die damit angedeutete nietzeanisch‐heideggerianische Linie der Subjektkritik hat
Michel Foucault das Subjekt als Ergebnis einer zugrundeliegenden subjektivierenden Macht,3 die in
gesellschaftlichen Diskursen, Praxen und Dispositiven sich manifestiert, thematisiert (LIT): als sub‐
iectum nicht im Sinne des „Unter‐Liegenden“, sondern vielmehr des „Unterworfenen“. Genauer: als
in der unauflösbaren Doppelstruktur dieser beiden Bedeutungen von Zugrundeliegen und
Unterwerfen (Ricken 2004, 135) je und immer wieder aus Akten der Unterwerfung Entstehendes.
2 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit [Heidegger 1993], § 10.
3 Ich möchte an dieser Stelle nicht im Detail erläutern, was im erziehungswissenschaftlichen Diskurs mittlerweile als
bekannt vorausgesetzt werden kann (vgl. bspw. Ricken/Rieger-Ladich 2004; Pongratz/Wimmer/Nieke/Masschelein
2004; Weber/Maurer 2006): dass der Foucaultsche Machtbegriff nicht mit Herrschaft, politischer Macht etc.
gleichzusetzen ist, sondern auf der Ebene gesellschaftlicher Praxen ansetzt; dass Macht in diesem Sinne nicht
ungleich verteilt, sondern überall ist; dass sie nicht restriktiv wirkt, sondern produktiv ist; dass sie in eine
ökonomische und politische Gesellschaftsgeschichte eingebettet ist, die im 18. Jahrhundert – also zeitgleich etwa
mit dem Ende de Absolutismus in Europa und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaften – eine entscheidende
Wende erfuhr (vgl. auch: Foucault 1977; Foucault 2005).
4
17. Literatur
Butler, Judith (2001): Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Eigenmann, Philipp/Rieger‐Ladich, Markus (2010): Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die
Geburt des Gefängnisses. In: Jörissen, B./Zirfas, J. (Hrsg.): Schlüsselwerke der
Identitäsforschung. Wiesbaden: VS‐Verlag, S. 223‐239.
Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.:
Suhrkamp.
Foucault, Michel (1989): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Frankfurt/M.
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin.
Foucault, Michel (2005): Analytik der Macht. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2009): Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/82).
Frankfurt/M.: Suhrkamp
Frank, Manfred (Hrsg.) (1991): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre. Frankfurt/M.:
Suhrkamp.
Gödde, Günter (2000): Traditionslinien des „Unbewußten“. Schopenhauer – Nietzsche – Freud.
Tübingen: ed. diskord.
Hahn, Alois (2000): Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt/M.:
Suhrkamp.
Heidegger, Martin (1993): Sein und Zeit. 17. Aufl. Tübingen: Klostermann.
Jörissen, Benjamin/Marotzki, Winfried (2008): Neue Bildungskulturen im „Web 2.0“: Artikulation,
Partizipation, Syndikation. In: Gross, F. von/Marotzki, W./Sander, U. (Hrsg.): Internet –
Bildung – Gemeinschaft. (= Medienbildung und Gesellschaft. Bd. 1). Wiesbaden: VS‐Verlag,
S. 203‐225.
Jörissen, Benjamin/Marotzki, Winfried (2009): Medienbildung – eine Einführung. Theorie –
Methoden – Analysen. Stuttgart: Klinkhardt/UTB.
Lüdkehaus, Ludger (2005): „Dieses wahre innere Afrika“. Texte zur Entdeckung des Unbewußten
vor Freud. Gießen: Psychosozial‐Verlag.
Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS‐
Verlag
Marotzki, Winfried (2008): Weisen der Artikulation am Beispiel von Web 2.0‐Phänomenen. In:
Schachtner, Chr./ Höber, A. (Hrsg.): Learning Communities, Frankfurt/M.: Campus, S. 57‐70.
Maurer, Susanne/Weber, Susanne Maria (2006): Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden.
Gouvernementalität als Perspektive für die Erziehungswissenschaften. In: Weber,
S./Maurer, S.M. (Hrsg.): Gouvernementalität und Erziehungswissenschaft. Wissen – Macht –
Transformation. Wiesbaden: VS‐Verlag, S. 9‐36.
Pongratz, Ludwig A./Wimmer, Michael/Nieke, Wolfgang/Masschelein, Jan (Hrsg.) (2004): Nach
Foucault. Diskurs‐ und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik. Wiesbaden: VS‐
Verlag.
17
18. Poster, Mark (2008): Die Sorge um sich im Hyperrealen. In: Paragrana 17 (2008) 1, S. 201‐227.
Reichertz, Jo/Schneider, Manfred (Hrsg.) (2007): Sozialgeschichte des Geständnisses. Zum Wandel
der Geständniskultur. Wiesbaden: VS‐Verlag
Reichertz, Jo (2009): Kommunikationsmacht. Wiesbaden: VS‐Verlag.
Ricken, Norbert/Rieger‐Ladich, Markus (Hrsg.) (2004): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren.
Wiesbaden: VS‐Verlag.
Ricken, Norbert (2004): Die Macht der Macht – Rückfragen an Michel Foucault. In: Ricken,
N./Rieger‐Ladich, M. (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: VS‐
Verlag, S. 119‐144.
Ricken, Norbert (2006): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung.
Wiesbaden: VS‐Verlag.
Rieger‐Ladich, Markus (2004): Unterwerfung und Überschreitung: Michel Foucaults Theorie der
Subjektivierung. In: Ricken, N./Rieger‐Ladich, M. (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische
Lektüren. Wiesbaden: VS‐Verlag, S. 203‐223.
Rouse, Joseph (2005): Power/Knowledge. In: The Cambridge Companion to Foucault. Second
Edition. New York: Cambridge Univ. Press, S. 103‐122.
Springs, Jason A. (2009): „Dismantling the Master's House“. Freedom as Ethical Practice in
Brandom and Foucault. In: Journal of Religious Ethics 37 (2009) 3, S. 419‐448.
Taylor, Charles (1996): Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität.
Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Weber, Susanne/Maurer, Susanne (Hrsg.) (2006): Gouvernementalität und Erziehungswissenschaft.
Wissen – Macht – Transformation. Wiesbaden: VS‐Verlag.
Wulf, Christoph (2005): Zur Performativität von Bild und Imagination. Performativität –
Ikonologie/Ikonik – Mimesis. In: Wulf, Ch./Zirfas, J. (Hrsg.): Ikonologie des Performativen.
München: Fink, S. 35‐49.
18