2. Sie sind ein angesehener Autor und veranstalten
Konferenzen in der Schweiz und in Frankreich.
Wie lebt es sich als bekannte Persönlichkeit?
Zunächst einmal mit der Einsicht, dass meine Be-
kanntheit die Wunden der Vergangenheit nicht heilen
kann. Dabei denke ich an meine Erfah-
rungenimHeim,indemichgelebthabe,
und an die mangelnde Zuneigung dort.
Dann gibt es all diese Missverständ-
nisse über das Berühmtsein: Kennt man
mich in der Öffentlichkeit für das, was
ich tatsächlich bin? Durch meine Be-
kanntheit habe ich aber auch das grosse
Glück, viele Menschen kennenzulernen,
und ich bin Zeuge einer Geisteshaltung
geworden, die für die Freude und für
Ausgegrenzte einsteht. Ich habe eine
grossartige Plattform, die ich als Ge-
schenk, gleichzeitig aber auch als Ver-
antwortung betrachte.
Zurzeit leben Sie in Südkorea.
Warum sind Sie ins Ausland gegan-
gen? Und was finden Sie dort,
das Sie in der Schweiz nicht haben?
Seit bald einem Jahr bin ich nun schon
hier in Korea. Mir wurde bewusst, dass
es die Einfachheit ist, die die Menschen
wirklichverbindet.HierhabeichFreun-
de. Da die Sprachschwierigkeiten das Kommunizie-
ren ein bisschen schwieriger machen, ist der Kontakt
eher physischer Natur – ein Blick, ein Händedruck …
Und vor allem: Der Kontakt geht über das Herz und
wird zu einer körperlichen Erfahrung. Es beeindruckt
mich zum Beispiel sehr, wie
ganz konkret die Nahrung die
Verbindung zum Körper wie-
derherstellt, wenn die Sprache
fehlt. Es tut gut, irgendwo
fremd zu sein und für die
kleinsten Dinge auf die Hilfe
von anderen angewiesen zu
sein. So hinterfragt man manches, das man als selbst-
verständlich betrachtet. Das Reisen verlangt von uns,
aus uns herauszukommen. Zu entdecken, was andere
uns beibringen können.
Auf Ihrer Webseite veröffentlichen Sie unter
anderem einfache Überlegungen aus dem tägli-
chen Leben. Ihre philosophischen Betrachtungen
verfolgen dabei meist einen «praktischen» Zweck.
Ist das Absicht?
Die Zen-Philosophie hat mir aufgezeigt, dass nicht
Ideen oder Gedanken heilend sind, sondern vielmehr
die Erfahrung, der enge Kontakt mit der Wirklichkeit
der Dinge. Daher versuche ich auch, in meinen Bü-
chern so konkret wie möglich zu sein.
Kann man so sein Leben am besten in den Griff
bekommen?
Ich finde, dass uns heutzutage eher Orientierungs-
punkte als Dogmen weiterbringen. Wir brauchen spi-
rituelle Praktiken, damit wir uns nicht in der Trost-
und Mutlosigkeit und im Vergleich mit den anderen
Sein Start ins Leben war denkbar unglücklich. Aber Autor Alexandre Jollien
hat sich nicht unterkriegen lassen: Trotz Behinderung studierte der Walliser
Philosophie und fand für sich den Weg zu einer erfüllten Existenz.
Text:Sylvie Castagné; Fotos:Raphaël Bourgeois
«Wir müssen herausfinden,
was uns guttut»
Zur Person
AlexandreJollienkam1975in
Sierre(VS)miteinerKörper-
behinderungaufdieWeltund
lernteerstmitachtJahrengehen.
ImAltervondreiJahrenkamer
ineinSonderheim,woer17Jahre
verbrachte.Seinständiger
KampfumeinautonomesLeben
undpersönlicheWeiterentwick-
lungführteihnansGymnasium
inSittenundspäterandie
UniversitätFreiburg,woer
Philosophiestudierte.Zurzeit
weilterinSüdkorea.Jolliens
erstesBuchwar«Lobder
Schwachheit». EristVatervon
dreiKindernundarbeiteteals
KonferenzveranstalterinGenf.
alexandre-jollien.ch
19
7 | 2014 via
Interview Alexandre Jollien Erleben
«InSüdkoreaistes
dieEinfachheit,die
dieMenschen
wirklichverbindet.»
3. verlieren. Persönlich schöpfe ich Kraft aus dem Zen,
obwohl ich Christ bin. Die Praxis des Zen bedeutet,
ganz zur Einfachheit zurückzukehren. Es ist aber sehr
schwierig, die Einfachheit und Spontaneität eines
Kindeszuleben,dasganzimHierundJetztist.Beiuns
Erwachsenen ist die Perspektive «verschoben»: Wir
schauen uns selbst beim Leben zu.
Wie schaffen Sie es, immer
positiv zu denken?
DasLebenistschwerundbitter
und voller Unzufriedenheit,
und am Ende kommt der Tod.
Ist man sich dessen bewusst,
kann man der Depression ver-
fallen. Daher scheint es mir
wichtig zu sein, die Freuden
des Alltags zu «sammeln»,
ohne die Tragik der Existenz zu
verdrängen. Wir sollten versu-
chen, jeden Tag in den einfa-
chen Dingen die Freude zu fin-
den. Das ist alles andere als
banal. Es entsteht eine Art Ge-
wöhnung, die uns unglücklich
macht. Vieles wird selbstver-
ständlich. Und dann gibt es
noch den gesellschaftlichen Druck, der uns drängt,
uns zu vergleichen und Erfolg haben zu müssen. Die
Einfachheit, die Fähigkeit, im Hier und Jetzt zu sein,
kommt uns dabei abhanden.
In einem Ihrer Bücher schreiben Sie, dass Sie als
Lebensziel bedingungslose und ganzheitliche
Matthieu Ricard, offizieller Französisch-Übersetzer des Dalai Lama, und Alexandre
Jollien: Mit der Philosophie des Ostens den Realitäten der Welt begegnen.
Foto:JonSchmidt
Erleben Interview Alexandre Jollien
«Meine Familie ist
rund um die Uhr
für mich da.»
www.swisscom.ch/notruf-uhr
Dank der Limmex Notruf-Uhr mit eingebautem
Mini-NATEL® können Sie Ihre Freiheit jetzt
unbeschwert geniessen. Falls einmal etwas
passiert, werden Sie auf Knopfdruck mit einem
persönlichen Kontakt oder unserer Notruf-
zentrale verbunden und erhalten so rasche Hilfe.
Weitere Informationen unter der Gratis-
Hotline 0800 84 37 27 und unter
www.swisscom.ch/notruf-uhr
4. 21
via
Interview Alexandre Jollien Erleben
7 | 2014
«Mansolltesichfragen:
‹Wasistheutemitden
jetztverfügbarenRessourcen
möglich?›»
Freude erreichen möchten. Wie erklären Sie
einem privilegierten Schweizer Jugendlichen diese
doch recht abstrakte Idee?
Bedingungslose Freude ist überhaupt nichts Abstrak-
tes.Vielmehrsollmansichfragen:«Worüberkannich
mich unter den gegebenen Umständen freuen?» Wir
müssen herausfinden, was uns guttut. Das klingt ein-
fach, aber für die Mehrheit der Menschen ist es nicht
selbstverständlich, in ihrem Leben zu erkennen, was
ihnen wirklich Freude bereitet. Das ist das Wesent-
liche. Täglich Schritte auf dem Weg der Freude zu un-
ternehmen, das befreit. Das habe ich von Zen gelernt.
Ist das die Haltung, mit der Sie Ihre drei Kinder
erziehen?
Bei Kindern muss man zunächst Vorbild sein und zei-
gen, dass man ungeachtet der Umstände zufrieden
sein und sich freuen kann. Und man muss sich nach
einemFehlerbeiihnenentschuldigen.Mandarfihnen
nichtdasBildvermitteln,siemüsstenperfektsein,um
geliebt zu werden. Und muss ihnen zeigen, dass man
als Eltern fehlbar, aber liebevoll ist.
Wie geht man mit Wut und Frustration um?
Wut und Frustration gehören zum Leben. Man sollte
sich nicht von Frustrationen und Verletzungen leiten
Veloplus ist die Nummer 1 für
Velozubehör in der Schweiz.
AUSRÜSTUNG FÜR
ABENTEURERABENTEURER
JETZT GRATIS HERUNTERLADEN AUF
VELOPLUS.CH UND VELO GEWINNEN !
VELOHANDBUCH
Jetzt gratis bestellen!
Alle Produkte vom
Veloplus Team getestet.
VELOWELTEN
Läden in Basel, Emmen-
brücke, Ostermundigen,
St. Gallen, Wetzikon, Zürich.
WWW.VELOPLUS.CH
Über 20 000 Produkte
online verfügbar.
Auch als App erhältlich.
PLAY
&WIN!&WIN!&WIN!
VELOPLUS-GAME
lassen. Das beginnt im Kleinen: Ich habe den Zug
verpasst und kann mich nun über den Zug aufregen
oder zur Situation zurückkehren
und die Dinge unter einem ande-
ren Blickwinkel betrachten. Das
braucht Übung. Auch hier geht es
nicht um den Vergleich, sondern
man sollte sich fragen: «Was ist
heute mit den jetzt verfügbaren
Ressourcen möglich?»
Sie scheinen einen unerschütterlichen Optimis-
mus zu haben. Es gibt aber doch sicher Dinge, die
Ihnen Mühe bereiten ...
Die Ungerechtigkeit! Man hätte die Mittel, um vor al-
lem in Afrika gewisse Krankheiten und den Hunger zu
besiegen, aber dennoch fehlt es am Durchsetzungs-
willen. Das macht mich traurig.
Sie wissen noch nicht, wann Sie in die Schweiz
zurückkehren. Haben Sie denn noch andere Pro-
jekte, die Sie in Korea realisieren möchten?
Ich werde sicher ein Buch über meine Erfahrungen in
Korea verfassen. Und in zwei Jahren ein Filmdrehbuch
für eine französische Produktion schreiben. Darauf
freue ich mich sehr. ■