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Lockdown Attitude
Lebensrettende Massnahmen, Furcht vor dem Unbekannten, Angst vor
der Infektion – und die Aussicht auf eine schreckliche Rezession: Wir
verbringen die meiste Zeit in unseren vier Wänden. Szenen aus einem
anderen Alltag, der normal geworden ist.
Quallen und Astronauten
Waschen Sie Ihre Hände, halten Sie Abstand voreinander, bleiben Sie zu Hause, und
wenn das nicht möglich ist: Tragen Sie eine Maske, die Sie aber bitte nur an den
Gummbändern anfassen – Vorgaben und Verordnungen, die täglich auf unser Leben
einprasseln.
Einkaufen gehen ist OK. Desinfektionsmittel stehen am Eingang des Supermarktes
bereit, und Einweghandschuhe liegen wie gestrandete Quallen daneben. Neulich
begegnete mir eine als Astronautin verkleidete Kundin an der Kasse. Ich fürchtete, sie
könnte eine Vorerkrankung haben, die später als «Komorbidität» in die Statistik
eingeht. Was für ein hässliches Wort, das auch in tagesaktuellen Medien ständig
erwähnt wird.
Plötzlich, zwischen den Kühlregalen und der gähnend leeren Obstabteilung, fängt
mein linkes Ohr an zu jucken. Ich weiss: Das Virus dringt durch Mund, Nase oder
Ohren in den Körper ein. Deshalb sollten wir unser Gesicht nicht berühren, bevor wir
die Hände mit Seife geschrubbt und mit Desinfektionsmittel quasi steril gemacht
haben. Das habe ich getan.
Aber es juckt! Ich gebe meinen Widerstand auf und stecke meinen Zeigefinger ins
Ohr. Als ich nach Hause komme, füge ich dem Wasch-Desinfektions-Ritual ein
weiteres Element hinzu und tunke ein Wattestäbchen in die Desinfektionsflüssigkeit.
Jetzt ist auch die Ohrmuschel rein.
Besuch in kontaminiertem Gebiet
Das letzte Mal wagte ich mich vor mehr als zwei Monaten über die Grenzen meiner
Kleinstadt hinaus – und mitten hinein in einen «Cluster». Es ging um eine Reportage
im Elsass. Es war der Samstag, bevor die Schulen schlossen. Auf dem Rückweg machte
ich ein paar Einkäufe im Supermarkt – und tauchte ein in ein Meer von
Einkaufswagen, die überquollen von Hygieneprodukten und Fertiggerichten. Um mich
von diesem Stress zu erholen, kehrte ich in ein hübsches elsässisches Gasthaus ein.
Ich war der einzige Gast. Ich bestellte mit dem gebotenen Abstand bei der Wirtin. Wir
plauderten ein wenig, und sie erzählte, dass sie vor ein paar Wochen ihren Sohn
besucht habe – er ist Ingenieur und arbeitet in Wuhan… Während ich esse, schliesst
sie die rot-weiss karierten Vorhänge in der Gaststube. Eine beklemmende
Atmosphäre à la Simenon.
Ich habe das Gefühl, in feindliches Gebiet eingedrungen zu sein.
Die Erfahrung der Zeit
Meine Tochter musste ich in einer Blitzaktion vom Ende der Welt zurückholen. Jetzt
ist sie hier und langweilt sich manchmal. Die Zeit vergehe zu langsam, findet sie. Ich
hingegen mag die «lange Weile». Kindheitserinnerungen an sommerliche Stunden,
die sich langsam im Garten am Ufer der Dordogne entfalten. Die Grossmütter haben
Bohnen geerntet und unterhalten sich jetzt im Schatten eines Walnussbaums,
während sich langsam die köstliche Frische der Abendstunden über uns legt.
In den letzten Wochen habe ich etwa ein Dutzend Bücher gelesen, mir «La peste»
und «Le hussard sur le toit» als Hörbuch aufs Smartphone heruntergeladen.
Geschichten von früheren Epidemien, während ich aus Stofffetzen Masken fertigte.
Handgenäht, kleine Stiche, einen nach dem anderen.
Warum sollte ich mich beeilen, um zurück in mein früheres Leben zu kommen? Ich
denke, ich werde meinen Lockdown noch ein bisschen länger geniessen.
Mai 2020
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